Der 10. September 2018 war für unsere 9. und 10. Jahrgänge ein besonderer Tag: Ein Zeitzeuge und Überlebender des Holocaust kam an unsere Schule: Salomon Perel, auch bekannt als Sally, nahm sich die Zeit, uns seine Geschichte zu erzählen. Sally, jetzt 93 Jahre alt und so einer der letzten lebenden Zeitzeugen der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland, hat seine Erinnerungen unter dem Titel „Ich war Hitlerjunge Salomon“ 1992 veröffentlicht. Nach seinen schrecklichen Erlebnissen brauchte er nach seinen eigenen Worten 40 Jahre, um sich seine Geschichte von der Seele schreiben zu können. Wir fanden seinen Vortrag so spannend, dass wir hier einige Stationen seines Lebens darstellen möchten.
Der Autor Sally Perel wurde am 21. April 1925 im niedersächsischen Peine als Sohn zweier Juden geboren. Er erlebte zehn tolle Kindheitsjahre, in denen, wie er uns berichtete, „nichts seinen glücklichen Kinderhimmel trübte“. 1935, zwei Jahre nachdem Adolf Hitler an die Macht gekommen war, wurde Sally von der Schule „geschmissen“, weil er Jude war. Gemeinsam mit seinen Geschwistern und Eltern flüchtete er nach Lodz in Polen, wo sie drei Jahre bei einer Tante lebten. Sally schloss die Volksschule ab, gewöhnte sich an seine neue Heimat und lernte Polnisch.
Dann aber überfielen am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs änderte sich alles. Sally und sein älterer Bruder Isaak flüchteten nach Bialystoks in Ostpolen, während der Rest der Familie in ein Ghetto für Juden in Polen ziehen musste.
Die Mutter verabschiedete ihre Söhne mit den Worten: „Du sollst leben.“ Das habe ihm Kraft gegeben, sagt Sally. Auch an den letzten Rat seines Vaters kann er sich gut erinnern: „Bleibe immer Jude und vergiss nie, wer du bist!“
Im Kinderheim in Ostpolen fühlte sich Sally trotz großen Heimwehs ganz wohl. Doch die Ruhe hielt nur zwei Jahre, denn 1941 überfiel die deutsche Armee die Sowjetunion. Sally musste mit allen jüdischen Bewohnern des Kinderheims nach Minsk in die Sowjetunion flüchten. Auf dem Weg dorthin erlebte der damals 16-Jährige die Schrecken des Krieges. Der Weg führte durch zerstörte Städte, überall sah er Verletzte und Tote.
Auch in Minsk waren Sally und die anderen nicht sicher, sie liefen einem Trupp deutscher Soldaten direkt in die Arme. Sally gelang es noch rechtzeitig, alle Dokumente, die ihn als Juden auswiesen, zu vergraben. Trotzdem war er „darauf vorbereitet zu sterben.“
Sally und die anderen mussten vor den Soldaten antreten, die dann über Leben und Tod entschieden. Als Sally an die Reihe kam und von den Soldaten gefragt wurde, ob er Jude sei, entschied er sich für das Leben und gegen den Rat seines Vaters. „Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher“, sagte er. Die Soldaten glaubten ihm.
Sally überlebte in der Uniform der Nazis und kam über Umwege nach Deutschland zurück. Dort nannte er sich nun Joseph bzw. Jupp Perjell. Er trat in die Hitlerjugend ein und besuchte in Braunschweig vier Jahre lang eine HJ-Schule. Diese vier Jahre kamen ihm mehr als vier Ewigkeiten vor, in denen er zum Menschenhass erzogen wurde.
In der Hitlerjugend musste Sally sehr vorsichtig sein, um nicht aufzufliegen. Als er sich einmal ein Bad einließ, bemerkte ein Sanitäter, dass Sally beschnitten war. Doch er verriet Sally nicht, da er homosexuell war und laut Sally Gefühle für ihn hatte. Da Homosexuelle im Dritten Reich ähnlich verachtet wurden wie Juden, hüteten beide ihre Geheimnisse. „Es war der einzige Moment der Menschlichkeit in der Hitlerjugend“, sagt Sally. Der Sanitäter habe als einziger gezeigt, dass es „noch ein anderes Deutschland gibt“, und zwar eines jenseits von Herzlosigkeit und Brutalität.
Im Unterricht wurde den Jungen die Nazi-Ideologie der Rassentrennung beigebracht. Sally entsprach keiner der sogenannten sechs deutschen Rassen, die die Nazis propagierten. Die „nordischen Arier“ beispielsweise galten als eine hoch angesehene Rasse. Sie sollten „gut gebaut“, 1,73 m groß, blond, blauäugig sein - und somit das komplette Gegenteil von Sally, der pechschwarzes Haar und dunkle Augen hatte und eher dünn und klein gebaut war.
Im Dezember 1943 reiste Sally zum Ghetto nach Lodz in Polen, um seine Familie noch ein letztes Mal zu sehen. Er war sich sicher, dass sie glücklicher sterben würden, wenn sie ihn noch einmal sehen könnten. Er fuhr zwölf Tage lang jeweils fünf bis sechs Stunden mit der Straßenbahn durchs Ghetto in der Hoffnung, seine Familie noch ein letztes Mal zu treffen. Doch er sah nur erfrorene Menschen.
Später erfuhr Sally auch vom Tod seiner Familie. Seine Mutter wurde mit vielen anderen in einem Lastwagen vergast. Seine Schwester wurde erschossen, da sie nicht gut laufen konnte und somit als Arbeitskraft nutzlos war. Sallys Vater starb an Typhus. Einzig Sallys spätere Schwiegermutter und sein älterer Bruder, der für ihn wie ein Vater wurde, überlebten.
Zwei Jahre nach Kriegsende zogen sie gemeinsam nach Israel. Dies Land ist für Sally seine „rationale Heimat“ und Deutschland die „sentimentale“, wie er uns berichtete. Sally beschreibt seine Geschichte als „Spaltung der Seele“: Er lebte als Jude in der Haut eines Nazis, aus ihm wurde ein echter Hitlerjunge, der stolz die Uniform trug und den Hitlergruß zeigte. Sally sagt, er habe „nicht genug Immunität gegen das Gift“ der Nazis gehabt. Er habe alles geglaubt, was sie lehrten, und es selten hinterfragt. Doch er hatte sich geschworen, niemals die „rote Linie“ zu überschreiten und jemanden zu erschießen. Das wäre für Sally „ein Verrat an meinem Volk“ gewesen und er hätte niemals mit dem Selbsthass leben können.
Sally wünscht sich, dass wir seine Geschichte weitertragen, da auch wir durch seinen Bericht Zeitzeugen geworden sind. „Schuld erbt man nicht und die heutige deutsche Generation ist nicht schuld an dem, was damals passiert ist“, sagt er. Sein Buch und seine Auftritte sieht Sally als „Waffe gegen die Neo-Nazis“ und die „Auschwitzlüge“, die Leugnung des Holocausts. Er bereue nicht, was er damals getan habe, denn „man darf lügen, um zu überleben“, sagt Sally. Er glaubte in der schrecklichen Zeit nicht an Gott, denn für ihn kann es keinen Gott an Orten solchen Schreckens geben. „Ich habe Gott in Auschwitz gelassen“, sagt er.
Sallys Geschichte war sehr mitreißend und lehrreich. Wir haben uns geschworen, sie an die nächsten Generationen weiterzugeben. Wir sehen es als unsere Pflicht an, alles zu tun, damit so unfassbar Schreckliches wie in der Nazizeit nie wieder passiert. Beeindruckt bedanken wir uns herzlich für Sally Perels inspirierenden Vortrag bei uns im Paulsen-Gymnasium. Wir wünschen ihm von Herzen nur das Beste!
Clea Elies und Eve Treis (Klasse 10E)